Weltreligionen als Video-Oper
Weltreligionen als Video-Oper
„The Cave“ Das Ensemble Modern / Klangregie Norbert Ommer im Bockenheimer Depot Frankfurt am Main
Aus der Bühnentechnischen Rundschau, Ausgabe 01/2017
Das renommierte Ensemble Modern aus Frankfurt am Main hat zahlreiche zeitgenössische Werke in aller Welt ur- und erstaufgeführt. Diese wurden jetzt auf dem Festival heim.spiele an verschiedenen Orten der Stadt gezeigt. Unsere Autorin hat im Bockenheimer Depot die Video-Oper „The Cave“ des Komponisten Steve Reich und seiner Frau, der Malerin und Video-Künstlern Beryl Korot, angeschaut. Sprache wird hier in Musik umgesetzt und mit Bildern verwoben.
Heimspiel für das Ensemble Modern. Es hat sein organisatorisches Zentrum und einige seiner wichtigsten Spiel- und Produktionsstätten in Frankfurt. Das seit 1980 bestehende, demokratisch organisierte Ensemble präsentierte vom 3. Dezember bis zum 5. Januar mit dem Festival heim.spiele zahlreiche Produktionen. Einige sind bisher in der Heimatstadt noch nie, vor sehr langer Zeit oder in einer völligen anderen Fassung dargeboten worden. Spielorte waren jetzt das Opernhaus, das Franfurt LAB – ein Proben- und Produktionsort in einer ehemaligen Fabrikhalle – und das Bockenheimer Depot. Im Letzteren wurde vom 16. bis zum 21. Dezember „The Cave“ gezeigt. Das Bockenheimer Depot ist der ehemalige Betriebshof der Straßenbahn Frankfurt am Main. Besonders auffallend ist die hölzerne Dachkonstruktion der dreischiffigen Halle, die aus halbkreisförmigen Bogenbindern besteht und auf den Renaissance-Baumeister Philibert de l’Orme zurückgeht. Im Gegensatz zu vielen anderen heutzutage bespielten Industriedenkmälern ist das Bockenheimer Depot zentral in der Innenstadt gelegen und infrastrukturell sehr gut angebunden.
Am Anfang war das Wort. „The Cave“ beginnt mit einer Schreibmusik. An zwei Computertastaturen spielen Perkussionisten rhythmische Patterns. Der Klang der Fingeranschläge auf der Tastatur wird über Mikrofon übertragen. Auf den Leinwänden erscheint geschrieben: „Genesis XVI. Sarai, Abrahams Weib hatte ihm nicht geboren. Und sie hatte eine Magd aus Ägypten, die hieß Hagar.“ Die Schrift erscheint auf Deutsch, Englisch und Hebräisch. Die Video-Oper von Beryl Korot und Steve Reich begibt sich auf die Spuren von Abraham, Sarah und Hagar sowie den beiden Söhnen Isaak und Ismael in Jerusalem, Hebron und New York City. Der Titel „The Cave“, die Höhle, steht für die Höhle Machpela, in der heute überwiegend arabischen Stadt Hebron. Der Bibel zufolge kaufte Abraham diese Höhle als Grabstätte für seine Frau Sarah. Auch Abraham und Eva sollen in dieser Höhle begraben sein. Für Juden und Muslime ist der Ort gleichsam von großer Bedeutung. Die Juden leiten ihre Abstammung von Isaak ab, dem Sohn Abrahams und Sarahs. Die Muslime sehen sich als Nachkommen von Abrahams Sohn Ismael, den ihm Sarahs Magd Hagar gebar. Die Höhle ist heute weitgehend überbaut. Bestimmt wird der Ort durch eine islamische Moschee aus dem 12. Jahrhundert. Nach dem Sechstagekrieg 1967 war der Ort nach 700 Jahren erstmals wieder für Juden zugänglich, allerdings ist die israelische Armee stets präsent. Die Verwaltung liegt in den Händen einer islamischen Stiftung. Nirgendwo sonst auf der Welt verehren Juden und Muslime das gleiche Heiligtum.
Videokunst und Webkunst
Der Komponist Steve Reich, der im vergangen Jahr seinen 80. Geburtstag feierte, gilt als Begründer der Minimal Music, in der einfache Tonfolgen rhythmisch komplex variiert werden, dabei aber harmonisch gleich bleiben. Das Ensemble Modern ist Steve Reich eng verbunden und hat zahlreiche seiner Werke uraufgeführt. „The Cave“ jedoch wurde 1993 bei den Wiener Festwochen von Steve Reichs eigenem Ensemble Steve Reich and Musicians uraufgeführt. Das Ensemble Modern präsentierte das Stück dann 2011 in Straßburg und Dresden. „The Cave“ basiert auf Interview-Aufnahmen mit Israelis, Palästinensern und Amerikanern. Die Antworten auf die fünf stets gleichen Fragen: Wer war Abraham? Wer war Sarah? Hagar? Ismael? Und Isaak? spiegeln die unterschiedlichen Kulturkreise wider und entwerfen ein Kaleidoskop an Erinnerungen und Reflexionen. Die Künstlerin Beryl Korot leitet ihre Videoarbeit von der Webkunst ab: „Zunächst einmal ist das Werk, obwohl man mehrere Dinge gleichzeitig sieht, streng frontal und muss auch so gelesen werden. Darin bleibe ich dem Film treu. Um narrative Techniken in diesem neuen Format zu entwickeln, kehrte ich zum alten Prinzip des Webstuhls zurück und betrachtete sozusagen jeden Kanal als einen Faden. Ich stieß zu nonverbalen Erzählformen vor, indem ich Bilder, die zueinander in Beziehung stehen, sich genau getimt überlagern ließ, durch den Wechsel zwischen Bild und grauem Pausenband schuf ich für jeden Kanal einen individuellen Rhythmus.“
Im Bühnenbild des Bockenheimer Depots findet sich die Höhle in der Anordnung der Video-Leinwände wieder. Wie ein Portal rahmen die fünf Leinwände den Bühnenhintergrund. Davor sind die Instrumentalisten des Ensemble Modern, die Sänger des Vokalensembles Synergy Vocals sowie der Dirigent Brad Lubman positioniert.
Was ist mein Orchester? Und wo befindet es sich im Theater?
Vor der Premiere von „The Cave“ treffe ich Norbert Ommer. Er ist Klangregisseur des Ensemble Modern und in dieser Funktion auch festes Ensemblemitglied. Eine schlüssige Verbindung, denn viele Werke, die zum Repertoire des Ensemble Modern gehören, sind von der Komposition schon mit elektroakustischen Instrumenten oder der Notwendigkeit elektroakustischer Verstärkung angelegt. Zudem gastiert das Ensemble weltweit an ungewöhnlichen Orten, deren Räume für die Stücke erst akustisch eingerichtet werden müssen. Zum Beispiel weist Ommer auf die Vorhänge hin, die vor den Fenstern hängen und auch den Bühnenraum begrenzen. Die Stühle sind doppelt gepolstert. So schafft er innerhalb der bestehenden Architektur einen eigenen akustischen Raum, der sich durch eine trockene Akustik, also kurze Nachhallzeiten auszeichnet.
Die Begrenzung des Bühnenraums ist auch für das Lichtkonzept von Bedeutung. Für das Stück wird nicht das Bockenheimer Depot als Raum in Szene gesetzt, sondern auf der Bühne wird ein Fokus auf die Anordnung der Leinwände gesetzt, um die Anmutung einer Höhle zu erzielen. Die Instrumente und Sänger in „The Cave“ werden verstärkt, um ein homogenes Klangbild von Videoton, Gesang und Instrumentalmusik zu schaffen. Hinzu kommt, dass Steve Reich die Vokalparts für Non-vibrato-Stimmen geschrieben hat, sodass die Stimmen verstärkt werden müssen, um über dem Orchester gehört zu werden. Im originalen Programmheft äußert sich Reich wie folgt: „Ich sage nicht, andere Komponisten sollten keine Belcanto-Opern mehr schreiben; aber ich habe einen Weg verfolgt, der mich heute, im Amerika der 90er-Jahre interessiert – und das klingt natürlich nicht wie Musik aus dem 18. oder 19. Jahrhundert in Italien oder Deutschland. Wir leben mit musikalischen Realitäten, die es zur Zeit Mozarts oder Wagners nicht gab. Die Belcanto-Stimme musste laut genug sein, um über Mozarts Orchester drüber zu kommen. Später, als Wagner die Anzahl der Blechbläser in seinem Orchester erhöhte, mussten die Wagner-Stimmen noch lauter sein, um gehört zu werden – es wurde sogar ein spezieller Theaterraum gebaut (in Bayreuth), um das zu erreichen. [...] Ich glaube jeder, der heute für das Musiktheater schreibt, sollte selbst entscheiden: a) Was ist mein Orchester? Und wo befindet es sich im Theater? b) Welchen vokalen Stil verwende ich?“
Roter Faden mit Click-Spuren
Timing ist der zentrale Begriff für die Aufführungspraxis dieses Stücks. Die Musik muss absolut exakt mit den Bildern und dem Filmton übereinstimmen. Alle Interpreten werden mit Click-Spuren durch das Stück geleitet. Ihren jeweiligen Rhythmus-Click erhalten Sie über den Monitor-Mix, der teilweise über Lautsprecher und teils über Funkgeräte-Kopfhörer gesendet wird. Norbert Ommer hat diese Kopfhörer für ein offenes In-Ear-Monitoring ausgewählt, damit die Musiker auch immer noch den Ensemble-Klang hören. Insgesamt gibt es zwölf verschiedene Click-Spuren, die der Dirigent über einen Monitor-Lautsprecher zugespielt bekommt, denn bei einer Kopfhörerwiedergabe entstehen Interferenzen, die dann zu Hörverzögerungen führen. Das Stück ist eine ungeheure musikalische Herausforderung, denn einmal gestartet muss es durchlaufen. Die Musik hat Steve Reich aus dem dokumentarischen Filmmaterial entwickelt. Er notierte die Sprachmelodie der einzelnen Personen und orchestriert sie dann, sodass musikalische Porträts der Personen entstanden. Das dichte Geflecht aus Bild und Ton erfordert hohe Präzision, die durch jede Ungenauigkeit im Timing zerstört würde. Das Ensemble ist so positioniert, dass die vom Pegel schwächeren Instrumente (Holzbläser und Streichquartett) vorne sitzen, in der Mitte direkt vor dem Dirigenten die Sänger, dahinter die zwei Flügel und Vibrafon und auf einem Podest erhöht die Schlaginstrumente. Norbert Ommer hat einen Aufbau gewählt, der zunächst eine Aufführungspraxis ohne elektroakustische Verstärkung erlauben würde und in dem sich die Musiker gut untereinander hören können. Die Verstärkung in den Zuschauerraum erfolgt über zwei d&b-Line-Arrays vorne links und rechts und einen Center-Lautsprecher. Alle Lautsprecher sind so gehängt, dass sie nicht in die Sichtachsen des Publikums geraten. Unten am ebenerdigen Bühnenrand stehen zudem Nahfeld-Lautsprecher. Für die tiefen Lagen sind Subwoofer im Einsatz. Die Lautsprecher befinden sich auf Leinwandhöhe, um sowohl die visuellen als auch auditiven Elemente auf der Bühne zu fokussieren. Das Publikum sitzt auf einer ansteigenden Tribüne, die 400 Besuchern Platz bietet. Hinter der letzten Reihe ist die Tonregie verortet, vom Absatz darüber wird das Licht gefahren.
Gestaltung einer schlüssigen Hörszene
Ommer mischt mit einer Soundcraft-Vi3000-Konsole. Über die Matrix können alle Lautsprecher mit verschiedenen Mischungen beschickt werden. Die Mischungen sind vorprogrammiert, die Lautstärkeanteile jedoch nicht, sondern werden in jeder Vorstellung live angepasst. Das sei wichtig, um die Interpretation dem Raum anzupassen und eine schlüssige Hörszene zu schaffen. Gemischt werden muss einerseits die Live-Musik in sich und dazu der Filmton. So verlagert Ommer Atmosphären in den hinteren Raum, ordnet die Sprache der Interviewpartner den Leinwänden zu und staffelt Sänger und Instrumentalisten gemäß ihrer Position auf der Bühne. Dabei arbeitet er in diesem Fall nicht mit Delays, denn durch ihren Einsatz würde die Synchronität mit den Filmbildern verlieren. Ommer hat sich in der Mikrofonierung für ein klassisches Close Miking mit Kondensatormikrofonen entschieden. Beim Close Miking wird erreicht, dass eine bestimmende akustische Färbung des Aufnahmeraums ausgeschlossen wird, um dann wieder mit einem künstlichen Raum arbeiten zu können. Zur Abnahme der Signale verwendet er für „The Cave“ im Bockenheimer Depot Schoeps Kondensator-Mikrofone MK41 und MK4 sowie DPA-Clips für die Streicher.
Historische Aufführungspraxis
Bei den Filmbildern handelt es sich um die digitalisierten analogen Originale. Die Bildregie befindet sich, für das Publikum nicht sichtbar, rechts neben der Bühne. Auf fünf Monitoren kontrollieren die Techniker von BIG Cinema, ob auch alle Leinwände auf der Bühne beschickt werden. Bei den Projektoren handelt es sich um 6000-Lux-Geräte. Das ist sozusagen ein Fall von historischer Aufführungspraxis im Bereich der Videoprojektion. Stärkere Geräte würden die Wiedergabe des Bildmaterials verfälschen. Die Originalbänder wurden lediglich auf ein digitales Speichermedium übertragen und werden für die Aufführung über das Programm Watchout im Ursprungsformat 4:3 abgefahren und kontrolliert. In dem Seitenbühnenbereich befindet sich auch der Monitormischer, über den die Orchester- und In-Ear-Monitore versorgt werden. In der Ursprungsversion von 1993 bestand das Equipment noch aus einer Hochseecontainerladung für Bühnenbild und Kostüme.
Für die Videosteuerung waren sieben 286-IBM-Computer im Einsatz. Steve Ehrenberg, der technische Leiter des Uraufführungsteams, berichtet wiederum im Programmheft: „Als wir ursprünglich mit der Arbeit an ,The Cave‘ begannen, sah die Welt des Musiktheaters und der Kunst im Hinblick auf Förderung, Finanzierung und Unterstützung von Projekten noch völlig anders aus als heute. Es war die letzte Produktion, die über ein Festival finanziert wurde. Eineinhalb Jahre nach der Uraufführung war bereits klar, dass vermutlich nur wenige Veranstalter in der Lage sein würden, die Originalfassung von ,The Cave‘ aufzuführen. Dafür fehlte das Geld bei einer Arbeit dieser Dimension [...] und so entwickelten wir eine kleinere Version. Diese Version ist seit 2011 im Repertoire des Ensemble Modern. Inhaltlich kürzten Korot und Reich einige Stellen, um Situationen zu verdichten oder Längen herauszunehmen. Letztendlich ging es aber um praktische Überlegungen, um die Produktion leichter aufführbar und finanzierbar zu machen. Es lohnt aus verschiednen Gründen, „The Cave“ zu spielen und zu sehen. Die Musik besticht in ihrer Komplexität und farbenreichen Klangschönheit. Politisch ist es unglaublich interessant, die dokumentarischen Interviewsequenzen vor dem Hintergrund der Geschichte des Nahost-Konflikts nach der Uraufführung 1993 und der aktuellen Situation zu reflektieren. Spannend ist zudem, an sich selbst zu beobachten, wie man zunächst noch intellektuell die Filmsequenzen mit dem eigenen Bibelwissen abgleicht und sich schließlich selbst als Teil dieser Menschheitsgeschichte begreift.
Text: Antje Grajetzky