Ruhrtriennale

Klangarbeit in der Kraftzentrale
„De Materie“ und „Surrogate Cities Ruhr“ akustisch in Szene gesetzt

Die Industriehallen sind nicht für Konzert und Musiktheater gebaut worden. Akustisch sind die Hallen der ehemaligen Stahlindustrie im Ruhrgebiet unberechenbar. So Bedarf es immer wieder der Kunst der Klangregie, Musik in diesen Orten so in Szene zu setzen, dass die Besucher sie nicht nur hören, sondern auch verstehen können.
Gleich zweimal hat der Klangregisseur Norbert Ommer sich im Rahmen der diesjährigen Ruhrtriennale mit der Kraftzentrale in Duisburg auseinandergesetzt. Er hat den Sound von Louis Andriessens Musiktheater „De Materie“ und die Inszenierung von „Surrogate Cities “ von Heiner Goebbels gestaltet.

Bild

Geist und Materie

Es war erst die zweite Inszenierung des Musiktheaterstück „De Materie“ von Louis Andriessen. Diese erste große Musiktheater-
arbeit des niederländischen Komponisten für Solisten, Sprecherin, Chor und großes Ensemble ist seit ihrer Uraufführung in Amsterdam 1989 nicht wieder szenisch realisiert worden.
„De Materie“ besteht aus vier voneinander unabhängigen Sätzen, die jeweils ungefähr eine Länge von 25 Minuten haben. Jeder Teil reflektiert das Verhältnis von Geist und Materie. Thematische Folie sind jeweils kulturhistorische Bespiele aus der niederländischen Kultur. Beginnend mit der Unabhängigkeitserklärung von Spanien über Dokumente des Schiffbaus (1. Teil) zu Texten der Begine Hadewijch aus Brabant (2, Teil) und Piet Mondrains kunsttheoretischer Strömung De Stijl ( 3. Teil) bis zu Sonetten des niederländischen Dichters Willem Kloos und Texten von Marie Curie (4. Teil). Marie Curie ist die Ausnahme im niederländischen Themenreigen.

Der Regisseur dieser Neuinszenierung war Heiner Goebbels, es spielte das Ensemble Modern Orchester unter der Leitung von Peter Rundel. Norbert Ommer ist als Klangregisseur Mitglied des Ensemble Modern. Darüber hinaus ist er seit Dezember 2003 auch als
Dozent für Klangregie bei der Internationalen Ensemble Modern Akademie tätig und gibt seine besonderen Erfahrungen an die Stipendiaten weiter. Einige davon betreuen inzwischen selbstständig große Produktionen der Ruhrtriennale.

Bild

Arbeit mit der Partitur

Die Partitur von „De Materie“ schreibt keine Orchestersitzordnung vor. Zudem hat jeder Teil eine andere Besetzung. So war es Norbert Ommers Aufgabe, eine Sitzordnung vorzuschlagen, die zum Raum und zur Akustik des Raumes passt. Seine Fragestellungen lauten dabei: „Wie sieht das Partiturbild aus und welche Funktionen sind darin enthalten, wer muss wen hören, was muss ich hörbar machen und wie funktioniert das in dem Raum?“
Schon die Partitur schreibt vor, dass alle Instrumente verstärkt werden müssen. Das liegt in der Besetzung begründet, die zu groß besetzten Bläsern, Schlagwerk, zwei Klavieren und Synthesizer nur ein kleines Streicherensemble ((4, 3, 2, 1) vorsieht.
Ommer hat sich in der Mikrofonierung für ein klassisches Close Miking mit Kondensatormikrophonen entscheiden. Beim Close Miking wird erreicht, dass eine bestimmende akustische Färbung des Aufnahmeraums ausgeschlossen wird, um dann wieder mit einem künstlichen Raum arbeiten zu können. Die Sitzordnung und das Aufnahmeverfahren konnten zuvor in Franfurt im Main-Taunus-Zentrum ausprobiert werden, da Playbacks für die Sängerproben erstellt werden mussten.

Bild

Wer sitzt wo?

Das Ensemble Modern Orchester kam erst zu den Endproben dazu, in denen dann die Orchestersitzordnung erneut festgelegt
werden musste. Denn hohe Orchesteraufbauten etwa des Schlagwerks durften die Sichtachse des Publikums nicht einschränken und im dritten Teil fährt ein Teil des Ensembles auf dem Bühnenwagen in den hinteren Hallenteil. Diese Spielerinnen und Spieler mussten auf dem mittleren Bühnenteil untergebracht werden. Außerdem musste die Verkabelung des Orchestergrabens dementsprechend auf drei mobil voneinander unabhängige Stagebox Systeme aufgeteilt werden. Verkabelt ist die Bühnenmikrofonierung mit einem digitalen Multicore, die Wandler sind hinter dem Orchestergraben in Richtung Bühnenrückwand untergebracht. Bauakustisch ist der Orchestergraben mit Teppich, gepolsterten Stühlen und einer schallabsorbierenden Rückwand ausgestattet. Zu hören ist das Orchester für den größeren Teil der Besucher vor allem über die elektroakustische Beschallung. Lediglich die ersten Reihen erreicht noch der Direktschall des Orchesters.

Bild

Live End Dead End im Konzertsaal

Heiner Goebbels wollte in seiner Inszenierung die Struktur des Raumes sichtbar werden lassen. Dazu wurden dann alle Akusikbauelemente wie entsprechende schallabsorbierende Vorhänge an den Seitenwänden und an der Rückwand entfernt. Damit wurden Nachhall und Reflektionen der 170 m langen, 35 m breiten und 20m hohen Halle noch unberechenbarer.
Es gibt ein akustisches Gutachten der Halle, das jedoch nur für den Zustand mit den Akustikbauelementen gilt. Für die Realisierung des Stücks mit diesen inszenatorischen Raumanforderungen hat Norbert Ommer die ganze Halle nach dem Tonregieraumkonzept LEDE betrachtet. Der Zuschauerraum ist als Dead End konzipiert, den Bühnenraum, ungefähr 100 m ab dem Orchestergraben, hat Ommer als Live End betrachtet. Die Zuschauertribüne ist mit Teppich belegt, die Stühle sind mit einer Absorbtionsmasse ausgestattet, damit sie auch in unbesetztem Zustand keine harten Reflektionen abstrahlen. Die Seiten der Zuschauertribüne sind mit, in Hohlraum gehängten, doppelten Molton abgehängt. Die Tonregie ist hinter der Bestuhlung vertieft eingelassen, damit auch hier kein akustisch störender Hohlraum entsteht.

Bild

Schalldruck über große Entfernungen

In der Regie steht eine Digico SD 7 Konsole mit 150 Eingängen, die über eine digitale Matrix verschaltet werden. Daraus ergibt sich
die Möglichkeit jeden einzelnen Matrixpunkt zu verzögern. Grundsätzlich arbeitet Ommer mit drei großen Beschallungsebenen, um verschiedene Schallereignisorte zu simulieren.
Die erste Ebene wird durch ein Line-Array abgedeckt, dahinter folgen zwei weitere Beschallungsebenen, die mit Meyer Sound Long Throw Hörnern, die sich durch einen kleinen Abstrahlwinkel und einen über große Längen bis zu 100 m kaum abfallenden Schalldruckpegel auszeichnen. Mit diesen Systemen lässt sich eine punktgenaue Beschallung erreichen. Weitere Line Arrays hätten horizontal wie vertikal eine viel größere, unerwünschte Abstrahlung gehabt. Außerdem sind unter der Zuschauertribüne acht Subwoofer mit nach oben gerichteter Abstrahlung installiert worden. Weitere Lautsprecher finden sich hinter den Moltonvorhängen und in der Orchesterrückwand. Die optische Abschattung hat den Sinn, dass die Zuhörer die Lautsprecher visuell nicht als solche orten und einen diffus volleren Klangeindruck haben.

Bild

Was klingt wo?

Die Choristen, Vokalsolisten und Sprecher agieren in der Inszenierung von „De Materie“ auf seitlichen Emporen sowie im 100 m tiefen Bühnenraum. Die Herausforderung für die Klangregie besteht darin, ein Hörereignis für das Publikum zu schaffen, bei dem Schallereignis und Ort des Schallereignisses zusammenfallen. Um das zu erreichen, arbeitet Norbert Ommer mit dem Gesetz der ersten Wellenfront. Zum Beispiel ist an dem Ort auf der Empore, wo der Tenor singt, ein Lautsprecher installiert, der als so genannter Nullzeitlautsprecher in die Matrix einfließt. Der Pegel auf diesem Lautsprecher entspricht 100 % und wird über die Matrix auf n Lautsprechern verteilt, deren Pegel und Verzögerungen sich aus den Distanzen zwischen Signal und Mischpultausgang und Signal und den anderen Lautsprechern errechnen. Dafür hat Norbert Ommer zuvor sozusagen „trocken“ eine Matrix erstellt, die er dann in der ersten Probe im live Modus hörend justiert hat. Denn bei allen Möglichkeiten theoretisch Laufzeiten zu berechnen und Pegel und Frequenzspektrum darauf abzustimmen, zählt letztendlich die Hörwahrnehmung. Das gilt besonders in einem Raum, der sich mit jedem neuen Setting akustisch neu darstellt.

Musik verstehen

In den Proben hat Norbert Ommer direkt hinter dem Regieteam gesessen, denn eine schnelle und direkte Kommunikation ist wichtig, um
flexibel die Klangregie abgleichen zu können. Und jede Vorstellung wird live gefahren, weil es anders sowohl im Raum nicht als auch mit der Musik nicht funktionieren würde. Norbert Ommer sagt über sein Selbstverständnis der Klangregie: „Wir sind Teil von der Musik und wir können das mitgestalten. Wir übertragen nicht nur Musik, sondern arbeiten auch stilistisch mit. Hier geht es zum Beispiel darum, wie ich die einzelnen Sätze klanglich aufeinander beziehen kann. Die Inszenierung zeigt große, aber auch lange Bilder und lässt damit viel Freiheit für die Ohren. Dazu ist die Musik sehr unterschiedlich und zum Teil sehr fragil. Oft hat Peter Rundel gesagt: ‚Ich höre das nicht. Das musst Du entscheiden!’“ Bei „De Materie“ von Louis Andriessen hat Norbert Ommer Musiktheater in Szene gesetzt. Die besondere Herausorderung war das Arbeiten mit verschiedenen Klangorten, also auch immer verschiedenen Räumen und bewegten Schallquellen, deren Bewegung auch für den Zuhörer hörend nachvollziehbar sein muss. All die verschiedenen Information des Schalls mit seinen Laufzeiten, Reflektionseigenschaften an bestimmten Orten und schlicht instrumentenbedingten Lautstärkeunterschieden im Orchester gilt es zu einem für den Hörer Sinn machenden, also mit der Hörerfahrung aufzufassenden, musikalischen Zusammenhang zu mischen. Großes Musiktheater möglich zu machen, ohne es auf einen konventionellen Stereomix zu reduzieren.

Ein Leib- und Magenstück

Die Komposition „Surrogate Cities“ von Heiner Goebbels hat Norbert Ommer 1994 mit uraufgeführt.
Zahllose Aufführungen rund um den Erdball folgten. Zum Abschluss seiner Intendanz der Ruhrtriennale hat Heiner Goebbels das Stück in der Kraftzentrale mit 130 Laientänzern in der Choreographie von Mathilde Monnier inszenieren lassen. Es spielten die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane, der dieses Stück schon einmal mit seinem Orchester 1997 in der Bochumer Jahrhunderthalle zur Aufführung gebracht hat. Jede Inszenierung des Stücks und auch jede rein konzertante Aufführung wird für den jeweiligen Raum neu konzipiert. So hat auch der Klangregisseur kein Surrogate Cities Programm in sein Mischpult eingespeist, sondern entwirft für jede Aufführung ein neues Klangkonzept. Dennoch hört man dem Klangergebnis die Erfahrung an. Der Sound ist energiereich, perfekt und rund.

Schall schlucken

Das Orchester ist auf einem großen Kreis in der Mitte der Halle positioniert. Die Zuschauer finden auf zwei gegenüberliegenden Tribünen Platz. Die Tribünen sind ähnlich wie für „De Materie“ bauakustisch optimiert worden, mit Teppich und absorbierenden Stuhlpolstern belegt, jedoch nicht von absorbierenden Moltonvorhängen umgeben. Der Orchesterboden ist ebenfalls mit Teppich belegt, die Musiker
sitzen auf gepolsterten Stühlen. Obwohl der Orchesterkreis nach außen überhaupt nicht schalltechnisch abgeschottet ist, befindet man sich auf diesem Teppich in einer zum Gesamteindruck von der Halle komplett komplementär wirkenden Akustik. Es ist trocken, kein Nachhall, keine Reflektionen. Mit geschlossenen Augen würde man hier eine Sprecherkabine imaginieren. Der Sinn dahinter ist wieder die Abnahme des Orchesters mit Close Miking, um überwiegend Direktschall abzunehmen. Dazu hat Norbert Ommer die Instrumente teils zwei- bis dreifach mikrofoniert. Die einzelnen Mikrofonsignale werden mit den jeweils entsprechenden Laufzeitunterschieden zum Mittelpunkt des Orchesterkreises in die Digico SD 7 Konsole eingespeist. Für die Musiker und den Dirigenten sind Monitorboxen installiert, damit ein Zusammenspiel in diesem Raum möglich ist.

Bild

Überzeugungsarbeit

Die Sänger David Moss und Jocelyn B. Smith haben zunächst auch mit den Monitoren gearbeitet bis Ommer sie an das In Ear Monitoring heranführen und davon überzeugen konnte. Die Vorteile waren, dass der Aktionsradius der Sänger so größer wurde, David Moss
umrundet das Orchester an einer Stelle, und dass die musikalische Information für die beiden wesentlich detaillierter zu übertragen war. Den Monitormix für alle Beteiligten mischt Norbert Ommer je nach Partituranforderung, entscheidet also musikalisch welche Information für wen an welcher Stelle wichtig ist. Um das Orchester herum strahlt ein Ring von Monitorlautsprechern nach außen. Diese Signale erreichen zum einen das Publikum und zum anderen die Tänzer, deren Choreographie um das gesamte Orchesterrund herum stattfindet.

Bild

Verbeugung vor dem Ruhrgebiet

Es sind 130 Laientänzer aus dem Ruhrgebiet, aus Grundschulen, aus Streetdance-Gruppen, Kampfsportclubs und Standardtanzvereinen. Mathilde Monnier ist es ausgezeichnet gelungen, eine partizipative Choreographie zu entwerfen, die die Akteure nie vorführt und berührende Momente generiert. Es ist eine Kunst, wie es hier gelungen ist, Menschen mit ihren Körpern und Gesichtern für diese
Produktion zu gewinnen, die in ihrem Ungeschminkten und Ungelenkigen nicht Laienhaftigkeit, sondern Einzigartigkeit ausstrahlen. Eine aufrichtige und nach vielen unzugänglichen Produktionen der Ruhrtriennale auch notwendige Verbeugung vor dem Ruhrgebiet, deshalb auch „Surrogate Cities Ruhr“. Das Orchester unter Steven Sloane spielt das Stück übrigens hervorragend.

Bild

Zwei Seiten einer Musik

Nun sitzt das Publikum einmal in gewohnter Richtung zum Orchester mit Blick auf den Rücken des Dirigenten und einmal hinter dem
Orchester. Übertragen wird das Orchesterspiel im Wesentlichen durch zwei Stereosysteme, in denen wieder Throw Long Horns zum Einsatz kommen. Schließlich gilt es zu vermeiden, dass Seiten- und Rückwände den elektroakustisch übertragenen Schall reflektieren. Im Gegensatz zur Gestaltung der Halle bei „De Materie“ sind die Akustikvorhänge für „Surrogate Cities Ruhr“ wieder eingehängt worden, so dass dennoch seitlich auftreffende Schallanteile zusätzlich absorbiert werden. Die Systeme sind oberhalb der runden Lichttraverse in Flucht mit dem Orchesterrand installiert. Um die Bässe des opulent mit Donnerblechen, Timpani und Gongs besetzten Schlagwerks hör- und spürbar zu machen, sind unter den Zuschauertribünen in der Mitte längs verlaufend jeweils vier Paar Subwoofersysteme mit nach oben abstrahlenden Speakern positioniert. Die Publikumstribünen bekommen jeweils eine andere Mischung über die Stereosysteme zugespielt. Denn hinter dem Orchester klingt es auch in Wirklichkeit anders als vor dem Orchester. U hören ist eine Mischung aus Wirklichkeit und elektroakustischer Bearbeitung, denn wichtig ist, dass der Klang dem Orchester zugeordnet wird, Schallereignis und Schallereignisort zusammenfallen.

Bild

Der Klangregisseur als Interpret

Deutlich wird an diesen beiden unterschiedlichen Klangregiekonzepten für die Duisburger Kraftzentrale, dass jeweils unterschiedliche
akustische virtuelle Räume geschaffen werden. Das Wichtige am Begriff des Virtuellen ist das Wirksame. Die jeweilige Klangregie macht so erst die Partitur wirksam und hörsam. Zwei Aspekte machen die Schaffung virtueller akustischer Räume notwenig. Zum einen gibt die Akustik der umgenutzen Industrieräume vor, dass es nicht ausreicht Instrumentengruppen elektroakustisch zu stützen und dieses dem Raumklang zuzumischen, sondern die Räume müssen elektroakustisch neu gestaltet werden. Zum anderen handelt es sich bei beiden Partituren um Instrumentierungen, die ohne elektroakustische Unterstützung nicht umzusetzen sind, weder für die Hörwahrnehmung des Dirigenten noch für die des Publikums. Elektronische Instrumente wie Sampler und Syntheziser müssen in den Klang integriert werden und auch die akustische Besetzung kann die Partitur ohne elektroakustische Unterstützung nicht transparent umsetzen. Raum und Werk fordern den Klangregisseur als mitinterpretierende Kraft der Inszenierung.
Dennoch sagt Norbert Ommer: „Die eigentliche Musik passiert vor dem Mikrofon.“

Text: Bühnentechnische Rundschau von Antje Grajetzky; Bilder : Robert May