Raum und Sound - Ein Abenteuer

RAUM UND SOUND – EIN ABENTEUER

EIN NEUER ORT DER KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN FÜR ”SURROGATE CITIES”

HÖHEPUNKT UND ABSCHLUSS DER FESTPIELE IN DIESEM JAHR WAR DAS KONZERT ”SURROGATE CITIES”, EIN MUSIKALISCHES PORTRÄT EINER STADT VON HEINER GOEBBELS. EINE 3900 m2 GROSSE PRODUKTIONSHALLE IM VW–TRANSPORTERWERK IN HANNOVER-STÖCKEN WURDE FÜR EIN ABENDKONZERT ZUM KONZERTSAAL

Eine Stadt in der Stadt

Außergewöhnliche Orte für Inszenierungen zu finden, die auch vielen Zuschauern Platz bieten, ist in Hannover nicht einfach. Oberbürgermeister Stefan Schostok gab dem künstlerischen Team der Kunst Festspiele Herrenhausen den entscheidenden Anstoß : ”Fragt doch mal bei VW an." Also traf man sich mit den Verantwortlichen des Transporterwerks in Hannover-Stöcken und präsentierte die Idee.
Die Transporterhalle, in der regelmäßig Betriebsversammlungen mit bis zu 5000 Beschäftigten stattfinden, solle als Spielort für die Kunst Festspiele genutzt werden.

Zunächst konnten sich die VW- Verantwortchen nicht vorstellen, wie ein derartiges Projekt im laufenden Produlztionsbetrieb gelänge. Doch die von der Technischen Leitung der KunstFestspiele geleistete Überzeugungsarbeit fruchtete - VW entschied sich zur Kooperation. Noch nie hatte ein Konzert im Werk stattgefunden. Die Intention von Ingo Metzmacher, mit den Kunst Festspielen hinaus in die Stadt zu gehen, fand hier eine neue Realisation. Die Vorplanung für das Projekt dauerte ein Jahr, alle Beteiligten trafen sich nahezu wöchentlich zu Projekmeetings, Im November 2016 wurde in einer gemeinsamen Pressekonferenz über die Kooperation zwischen VW und den Kunst Festspielen informiert.

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Der besondere Ort verlangte allerdings auch eine entsprechende Organisation und Logistik des Konzerts. Denn der Produktionsprozess durfte nicht gestört werden, und so wurde das Konzert in die Werksabläufe eingepasst. Am Freitagabend, um 22 Uhr begann der Umbau des Gleisfelds in eine Konzerthalle, Sonntag früh gab es die Generalprobe und abends um 18 Uhr das Konzert mit anschließendem Abbau.
Am Montagmorgen musste um 6 Uhr der ungestörte Produktionsablauf wieder beginnen.

Was passt besser an diesen Ort als Heiner Goebbels ”Surrogate Cities"? Das Stück, uraufgeführt 1994 und schon weltweit gezeigt, ist eine Materialsammlung über Städte, ihre spezifischen Klänge, ihre Architektur und die Menschen, die in ihnen leben.
Die Transporterhalle mit dem Gleisfeld ist wie gemacht für diese Musik. Denn auch das VW-Werk, mit seinen 15.000 Beschäftigten ist wie eine kleine ”Stadt in der Stadt".
Heiner Goebbels erläutert sein Werk so. Surrogate Cities ist der Versuch, sich von verschiedenen Seiten der Stadt zu nähern, von Städten zu erzählen, sich ihnen auszusetzen, sie zu beobachten. Es geht um ein realistisches, durchaus widersprüchliches, aber letztlich positives Bild einer modernen Großstadt.
Mein Ausgangspunkt ist nicht die Nahaufnahme, sondern der Versuch, die Stadt als Text zu lesen, etwas aus ihrer Mechanik, Architektur in Musik zu übersetzen.

Stephan Buchberger, Dramaturg der Kunst Festspiele, verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit Heiner Goebbels und auch mit dem Ensemble Modern. Nach dem ersten Ortstermin wusste er, dass der Orchesterzyklus Surrogate Cities perfekt in dieses industrielle Ambiente passt. Er schwärmt von der gelungenen Symbiose aus Musik und Spielort. Als ich die Halle das erste Mal angeschaut habe, wusste ich sofort, dass wir hier, Surrogate Cities spielen müssen.

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Die Saaloptik erhalten: minimale Technik für das Gleisfeld

Das Gleisfeld des Transporterwerks ist eine 3900 m2 große, langgestreckte Halle. An der westlichen Hallenseite verläuft das Gleis, auf dem Güterzüge das Material und die Komponenten für die Produktion anliefern. Hohe Türme aus Gitterboxen mit Karosserie-und Maschinenteilen lagern rechts und links der Gabelstaplerstraßen. Vom Haupteingang des Werksgeländes führte der Weg in die Halle durch lange Gänge, Maschinenteile am Rand,ein Blick auf die Fertigung ist hin und wieder möglich. Roboter ruhen im Wochenendmodus. Statt der sonst hektischen Betriebsamkeit flanieren die Besucher in die Konzerthalle, Dezente Hinweisschilder zeigen den Weg. Der lang ist und immer wieder an Maschinenteilen vorbeiführt. Dann öffnet sich die Halle.

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Ein überdimensionales Fluchtwegpiktogramm, aufgehängt an Gitterboxen am Eingang zur Halle, begrüßt den Besucher. Hier ist alles etwas größer als in einem ”echten” Konzerthaus. Container mit Toiletten auf der einen Seite vor der Halle, Klapptische und Kleiderstangen sind die provisorische Zuschauergarderobe. Gegenüber stehen zwei Rettungswagen der Werksfeuerwehr, etwas Festivalatmosphäre entsteht mit Bierwagen und Stehtischen im Gastronomiebereich. Der Konzertsaal ist durch schwarze Moltonhänger vom Rest der Halle abgetrennt. Sie sind nicht nur bloße Raumteiler, sondern dienen akustisch dazu, eine Echobildung zu vermeiden. Rechts und links vom Aushang wird der Zuschauerraum betreten. Gespannt rechen einige Zuschauer schon mal die Hälse, um einen Blick auf das Orchester zu erhaschen, dass auf einer Tribüne gegenüber dem Eingang platziert ist.

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Die Zuschauer sitzen ebenerdig. Die 1400 Plätze verteilen sich auf schlichten Bänken, die sonst für die Betriebsversammlungen genutzt werden, vermutlich Grundausstattung aus den 50er-Jahren. Die anfängliche Idee einer Zuschauertribüne wurde schnell verworfen. Der Aufbau, der für mehr als 1000 Zuschauer nötig gewesen wäre, hätte das gesamte Erscheinungsbild der Halle verändert. Stattdessen wird das 80-köpfige Orchester auf einer Tribüne platziert, die aus fünf Ebenen besteht und eine Rampenhöhe von 1 m hat. Somit ist der Fokus in der Halle optisch gesetzt. Den rückwärtigen Abschluss der Bühne bildet eine Wand aus Gitterboxen, in denen Motorhauben lagern, die der Schallreftexion dienen, drei weitere akustische Maßnahmen wurden nicht getroffen. Auf das Einhängen von Akustikelementen in der Halte wurde gänzlich verzichtet, denn zum einen hätten sie den Raumcharakter verändert, aber es war auch schlicht keine Einrichtungszeit dafür vorhanden. Dafür bleiben der Charme und die Authentizität der Architektur erhalten. Die Stahlträger und die Beton-wände und-böden bilden eine authentische Kulisse, ein Raumzitat für Ersatzstädte, eben ”Surrogate Cities”.

Über der Tribüne hängen einige Gitterträger für Scheinwerfer und Lautsprecher. Die Ausstattung mit Beleuchtung ist dezent, Svoboda-Rampen als Gegenlicht, rechts und links seitlich der Tribüne sind einige Moving-Lights und Stufenlinsen eingerichtet. In Traversen vor und hinter der Tribüne hängen weitere Stufenlinsenscheinwerfer zur Ausleuchtung des Orchesters. Doch auch die Sonne wirkt als Saalbeleuchtung, sie scheint durch Oberlichter und Seitenfenster. Bei Konzertbeginn um18 Uhr taucht sie den Raum in ein schönes Abendlicht.

Der Klang einer Industriehalle für das Projekt ”Surrogate Cities" wurden das
Ensemble Modern, Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie sowie Stipendiaten und Absolventen der Internationalen Ensemble Modern Akademie zum Ensemble Modern Orchestra. Der Vokalist David Moss und die Jazzsängerin Jocelyn B. Smith geben den erzählerischen Parts der Komposition ihre Stimme.

Auf den ersten Takt folgt ein Lichtwechsel auf das Orchester, und das Konzert beginnt. Die Musik ist eine Mischung aus Geräuschen, Sampler-Sounds, aus romantischen Orchesterklängen und Jazzpassagen. Die Sänger treten an unterschiedlichen Positionen im Raum auf. Mal steht Jocelyn B. Smith auf einer Galerie oberhalb des Orchesters, mal sitzt sie im Orchester. Auch so David Moss, der zeitweilig Seite an Seite mit Ingo Metzmacher, dem Dirigenten, seine Stimmimprovisationen ertönen lässt. Die Musik lebt im Raum, er nimmt sie auf. Der Geruch von Metall, Diesel und Beton liegt in der Luft. Es ist ein Konzert für alle Sinne und plötzlich hört man einen anfahrenden Güterzug, der eben noch Kulisse war. Bremsen quietschen, das Scheppern beim Halten des Zugs durchdringt die Halle.

Neben dem engen Zeitplan, den es für den Umbau des Gleisfelds in einen Konzertsaal gab, ist die größte Herausforderung des Abends sicherlich die Tontechnik.

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Die Halbwertzeit des Raums beträgt zwölf Stunden, wie Norbert Ommer, der Klangregisseur, beschreibt. Er vergleicht die Generalprobe mit dem Qualifying in
der Formell. Nur dass er danach noch etwas ,”schrauben und tunen" darf, was dort nicht erlaubt wäre. Die Generalprobe findet am Morgen des Aufführungstags statt. Bis zu diesem Zeitpunlzt muss alles gedanklich vorbereitet sein. Es erfordert viel Abstraktionsvermögen und Erfahrung, um sich vorstellen zu können, wie so eine Industriehalle klingen wird und vor welche Herausforderungen das Sounddesign
gestellt wird. Denn letztlich ”ist der Raum selbst ein Instrument", meint Ommer.

Grundvoraussetzung ist, dass der Klangregisseur das Stück gut kennt : Ommer kennt es sehr gut, hat er doch seit der Uraufführung fast alle Konzerte von ”Surrogate Cities" betreut. Er weiß, wie sich die Instrumente anhören sollen und entwickelt danach die Anordnung des Orchesters auf der Tribüne. Er besitzt die Vorstellungskraft, um zu sagen, wie das Orchester im Raum klingen soll. Ein Raum, der eigentlich gar keiner ist. Viel zu verwinkelt ist die Halle, sie hat zudem Kellerräume, die einen Resonanzraum bilden, wo gar keiner sein sollte.

Auf dieser Basis wird das Ton-Equipment für den Abend bestellt, werden Funkstrecken reserviert. Alles muss für das Setup bereit sein, wenn die Einrichtung des Sounds beginnt- neun Stunden vor Konzertbeginn, muss alles stehen. Als Ommer am Sonntagmorgen die Halle betritt, fahren immer noch Trailer durch die Gegend. Es ist ziemlich laut, das Orchester wird noch eingerichtet. Es ist unmöglich, irgendetwas zu messen. ”Dann muss man seine Ohren benutzen und sich vorstellen, wie es nachher klingen soll”, so Ommer.

Im Konzert selbst gilt es dann, die einzelnen Instrumente oder Instrumentalgruppen heraus-zuarbeiten und wieder im Orchesterklang einzubetten. Das Orchester darf nicht zu laut sein, es sollen dennoch Nähe und der Klang eines Symphoniekonzerts entstehen. Sampler-Sounds treten aus diesem Klangteppich heraus. Die Sänger, die an verschiedenen Orten im Raum auftreten, solIen gehört werden, das Orchester
darf sie nicht übertönen. An dieser Mixtur wird bis zum letzten Augenblick gedreht und gefeilt, um wirklich das Optimum zu erreichen.

Norbert Ommer ist zum Abschluss des Abends zufrieden mit dem Klangergebnis. Der Orchesterklang in der HalIe war das Maximale, was mit den vorhandenen Mitteln und der knappen Einrichtungszeit erreicht werden konnte. Das Publikum sieht und hört das genauso, es gibt Standing Ovations für das künstlerische Team und das Orchester. Das Experiment. ”Konzert auf dem Gleisfeld" ist ein volIer Erfolg und krönender Abschluss für die Kunst Festspiele Herrenhausen.


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MARTINA MEYER , Bühnentechnische Rundschau Braunschweig