Ich fahre eine Riesenfarbpalette an Klängen auf

Interview Norbert Ommer für die FAZ von Wolfgang Sandner

Herr Ommer, Sie sagten einmal, Ihr Instrument sei das Mikrofon. Wie lernt man dieses Instrument, und wann beginnt man damit?
Eigentlich ist das Mischpult mein Instrument. Aber Lautsprecher und die Mikrofone gehören zu dieser Instrumentenkette der Elektronik. Wie lernt man das? Es gibt mittlerweile ein Stipendium dafür bei uns in der Internationalen Ensemble Modern Akademie, wo man Klangregie belegen kann. Ich unterrichte auch in Berlin bei den Aufnahmeleitern und Tonmeistern, wo es auch einen Medienzweig dafür gibt.

Kinder sagen oft, sie möchten Gitarre oder Saxophon spielen. Kommen Kinder auch zu Ihrem Mischpult und sagen, das möchten sie lernen?
Das passiert oft in Konzerthäusern, wo ein junges Publikum nah sitzt. Kinder sind immer sehr fasziniert. Bei mir hat das tatsächlich so ähnlich angefangen. Wir hatten eine AG in der Schule, in der wir mit unserem Lehrer ein Tonstudio ausgebaut haben, um Musik aufzunehmen, die wir in unserer Band spielten. Ich habe zunächst Musik auf Lehramt studiert, aber im Zusammenhang mit dem Studioausbau hatte ich schon Kontakt bekommen zum deutschen Vertrieb des amerikanischen Elektronik-Herstellers, der mit Karlheinz Stockhausen zusammenarbeitete. Für mich war die Musik von Stockhausen, bei dem ich auch assistieren durfte, das Entree zur neuen Musik. Ich habe dann noch Ton- und Bildtechnik studiert, bin also auch graduierter Ingenieur.

Kann man sich mit Klangregie überhaupt beschäftigen, ohne eine musikalische Ausbildung zu haben?
Das halte ich für ausgeschlossen. Wenn ich im Konzertsaal sitze, liegt der Schwerpunkt auf musikalischer Arbeit. Beim Prozess vorher, etwa um die Technik so einzustellen, wie ich sie brauche, da hilft mir die Herangehensweise eines Ingenieurs

Wann beginnt Ihre wesentliche Arbeit? Vorher oder während des Konzerts?
Bei jedem Werk ist es etwas anders, aber es ist genau wie bei einem Musiker, der sein Instrument bedient oder beim Dirigenten, der die Partitur einrichtet. Schritt eins, ich bekomme das musikalische Material, etwa die Partitur, schaue sie mir an, vielleicht gibt es vom Komponisten vergleichbare Musik, die ich zum Hören heranziehen kann. Dann gibt es den Ort, wo das stattfinden soll, einen Kontext. Danach suche ich das Mischpult aus, die Mikrofone, die Lautsprecher, suche Live-Elektronik für die Tonbänder, teste alles. Live-Elektronik muss es ja nicht zwingend geben, es können Stücke sein, die verstärkt werden oder Tonbandzuspielung haben. Das kann ganz unterschiedlich sein.

Nehmen wir einmal den Konzertsaal der Alten Oper. Sie bekommen eine Partitur von Wolfgang Rihm. Was müssen Sie da vorher tun?
Bei Wolfgang Rihm gibt es in der Regel keine Elektronik. Da wäre meine Arbeit gleich null. Von Wolfgang Rihm haben wir aber einmal ein Werk im Freien, auf einem riesigen alten Flugfeld in Danzig aufgeführt, vor zig-tausend Zuhörern. In solchen Fällen suche ich Mikrofone speziell für Outdoor-Zwecke aus. Wichtig ist auch, ob die Bühne winddicht ist. Ich würde sogar überlegen, wie die Sonne steht, weil das für das Verhalten der Instrumente Bedeutung hat. Ich schaue mir also die akustischen Verhältnisse an und wie ich sie unter Umständen verändern kann. Eine gute Akustik lässt sich so bauen, dass die Musiker auf der Bühne den Eindruck haben, sie säßen in einem Konzertsaal. Das heißt, ich schaffe die Hörvoraussetzungen eines Raumes, der eigentlich gar nicht da ist. Mit Elektroakustik.

Als das Ensemble Modern vor gut vierzig Jahren gegründet wurde, gab es Sie und Ihre Funktion noch nicht. Am Anfang hat man offenbar nicht daran gedacht, dass ein Klangregisseur ein notwendiges Mitglied des Ensembles sein könnte.
Ja, es gab aber schon einen Vorgänger, allerdings ohne Gesellschafterstatus. Ich habe im Ensemble mit dem Yellow-Shark-Projekt von Frank Zappa begonnen, später lernte ich bei anderen gemeinsamen Arbeiten Heiner Goebbels kennen. Ein paar Jahre später hat man mich dann gefragt, ob ich Gesellschafter werden wolle. Da war schon klar, dass Elektroakustik ein Instrument ist wie andere Instrumente auch und man eine gemeinsame Sprache, einen eigenen Klang entwickeln kann, wenn man konstant zusammenarbeitet.

Wie funktioniert denn die Zusammenarbeit mit solchen Komponisten wie Heiner Goebbels, die ja selbst so etwas wie Klangregisseure sind?
Heiner Goebbels hat dabei doch eher den Ansatz eines Komponisten und ich den eines Klangregisseurs. In der Diskussion entstehen neue Dinge. Bei ihm beginnt es tatsächlich erst einmal mit dem Anhören von dem, was er komponiert und gesampelt hat und was in der Elektronik entstanden ist. Ich zeige ihm dann, was man mit diesen Klängen machen könnte. Aber das Wichtigste bei dieser Zusammenarbeit ist immer Vertrauen. Der Komponist muss wissen, dass er mir sagen kann, wie er es haben möchte. Und ich versuche, dem möglichst nahezukommen. Ich fahre eine Riesenfarbpalette an Klängen auf, die ich mir schon vorher überlegt habe, wenn ich weiß, worum es geht. Und bei den Proben wird es vorgeführt und entwickelt.

Mir scheint, dass es eigentlich kein festes Berufsbild des Klangregisseurs gibt, auch kein übermäßig großes Angebot an Studienplätzen. Oder täusche ich mich?
Ja, man kann Klangregie eigentlich so gar nicht studieren. Man kann wie gesagt Stipendien bekommen, wie hier bei uns. In Detmold, bei den Tonmeistern, kann man einen Kursus Klangregisseur besuchen. Aber da müssen schon verschiedene Fachbereiche zusammenwirken, und das gibt es nicht so häufig. Aber es werden immer mehr. Die Stipendiaten, die hier bei der IEMA waren, sind mittlerweile überall tätig.

Wie viele sind das?
So um die zwanzig. Ein paar haben mittlerweile auch andere Beschäftigungen. Aber einige von ihnen tauchen immer wieder bei meiner Arbeit auf, um mir zu assistieren oder auch mich zu vertreten. Also die IEMA hat schon gute Klangregisseure hervorgebracht. Jetzt bei unserer Installation im Hessischen Rundfunk war ein ehemaliger Student mein Assistent, zwei ehemalige Stipendiaten arbeiten beim Hessischen Rundfunk als Tonmeister.

Es kommt höchst selten vor, dass einem Geiger einmal eine Saite reißt oder beim Klavier das Pedal nicht funktioniert. Kommen bei Ihrem Instrument technische Pannen häufig vor, häufiger als bei herkömmlichen Musikinstrumenten?
Ja, das kann man schon sagen, weil die Kette von zusammengehörenden Instrumenten eine viel Längere ist. Der Apparat kann unter Umständen sehr groß sein, die vielen Kabel, die Lautsprecher, Live-Elektronik, Computer. Aber auch da kann man versuchen, Fehler weitgehend auszuschließen. Die Technik wird auch immer besser.

Aber die technische Entwicklung schreitet auch so wahnsinnig schnell voran. Selbst komplexe elektronische Apparate bekommt man fast nachgeworfen, wenn sie ein paar Jahre alt sind. Da kommt man fast als Fachmann schon nicht mehr mit.
Ja, das stimmt und das wird auch noch ein Problem für die Musik unserer Zeit werden. Nehmen wir nur mal die Ringmodulatoren von Stockhausen. Die originalen Ringmodulatoren hat heute kein Mensch mehr, das wird mit Computern gemacht. Aber ein Computer mit der dazugehörigen Software eines Ringmodulators wird niemals so klingen, wie ein originaler Ringmodulator damals geklungen hat, Das gleiche gilt für analoge Mehrspurmaschinen oder elektronische Tasteninstrumente. Nun gut, auch die Entwicklung der klassischen Instrumente ist über die Jahrhunderte vorangeschritten, allerdings in einem viel langsameren Prozess. Auch beim Ensemble Modern müssen wir überlegen, wie wir diese Probleme lösen. Wir haben noch ein paar dieser alten Instrumente. Aber in zehn Jahren werden sie wohl auch nicht mehr zu spielen sein. Da muss man überlegen, wie man wieder möglichst nah an diesen Klang herankommt, der dann schon historische Musik ist.

Man könnte fast sagen, Heiner Goebbels hat das bei seinem House of Call thematisiert, indem er mit vorhandenem Archivmaterial arbeitet, es collagiert, einfügt, wiederverwendet und damit gewissermaßen auch erhält.
Ja, in der neuen Musik, kann man auch schon von historischer Aufführungspraxis sprechen. Heute spielen wir Mozart oder Beethoven auf neuen Instrumenten. So werden wir vielleicht auch House of Call in fünfzig Jahren mit den Instrumenten spielen, die uns zur Verfügung stehen. Die Frage wäre dann allerdings, ob wir uns historisch auch am alten Klangbild orientieren wollen und welche Aufnahmen uns dafür noch zur Verfügung stehen.

Darf ich einmal auf die Terminologie kommen. Es gibt den Klangregisseur und den Sounddesigner. Mir scheinen das zwei Begriffe für dieselbe Sache zu sein.
Ich würde das differenzieren. Sounddesign ist die Arbeit, die ich mache, bevor ich den Proberaum betrete. Da baue ich mein Instrument zusammen, mit allem, was dazu gehört. Ich sichte die Partitur, erkunde den Raum, höre die Musik. All diese Planungsarbeit, die Skizzen, die ich im Kopf oder im Computer habe, die Listen, die ich mache, die Ideen, die ich entwickele, das gehört zum Sounddesign. Wenn ich aber den Proberaum betrete und mich ans Mischpult setze, fange ich an, Musikregie zu führen.

Was war denn bisher Ihre aufwendigste oder schwierigste Arbeit für das Ensemble Modern?
Sehr schwierig war Mantra von Stockhausen aufzuführen und dabei die alten Ringmodulatoren noch zum Laufen zu bringen. Was mir auch gelungen ist. Auch die Aufgaben, die mir Heiner Goebbels mit House of Call gestellt hat, waren enorm anspruchsvoll. Seine Prämisse war ja, damit in die Konzertsäle zu gehen, nicht in Industriehallen, wo wir häufig mit seiner Musik sind. Ich baute also das Orchester schräg auf unterschiedlichen Höhen. Dann musste ich die kompletten Samples von historischen Aufnahmen, die auftauchen und wieder verschwinden, Sänger aus den zwanziger Jahren, all das mit dem Orchester in dieser Aufstellung der Bühne zusammenfügen. Schließlich war die Frage, wie bekomme ich diese alten Klänge projiziert, damit sie im Konzertsaal verstanden werden? Ich habe kein Hörfunkstudio zur Verfügung, sondern Konzertsäle. Konzertsäle haben eine eigene Akustik, die klingen länger nach als ich es für Sprachaufnahmen gebrauchen kann. Das war eine sehr spannende Aufgabe.

Gibt es denn Räume, die für die Musik, die Sie mit dem Ensemble Modern machen, nicht infrage kommen? Gibt es Grenzen der Bespielbarkeit?
Ich weiß nicht, ob Sie das Stück Three Tales von Steve Reich kennen. Da geht es um verschiedene Katastrophen. Dazu gehört eine große Leinwand...

...ach ja, das Zeppelin-Stück...
Ja, dafür war ich in den Zeppelin-Werken am Bodensee, die das Stück machen wollten. Sie hatten das Stück aber noch nicht gesehen, und wussten nicht, dass da auch ein brennender Zeppelin abstürzt. Ich war in einem der Hangars für Zeppeline, wo das Werk aufgeführt werden sollte. Es wäre ein Riesenaufwand gewesen, denn der Nachhall ist tatsächlich zu lang in diesem ellenlangen Riesenraum. Dann gab es die Filmleinwand, die mit der Tonspur verbunden sein musste und diese ganzen Geräusche, aber auch Sprache und historische Sprachaufnahmen, die man verstehen sollte. Das wäre so ein unmöglicher Raum gewesen. Es hat dann auch nie stattgefunden. Mit Elektroakustik kann man eine Menge schaffen. Aber bei so etwas würde ich sagen, lieber nicht.

Das vollständige Interview finden Sie in der FAZ vom 29.02.2024 oder unter:
http://www.faz.net/aktuell/Rhein-main/kultur/riesige-farbpalette-an-klaengen-19552795.html